Der beschissenste Tag meines Lebens

(die wahren Ereignisse des 15.12.2001 mit abgeänderten Namen)

Es ist ja wirklich nicht so, dass es in meinem Leben nicht genug beschissene Tage gab. Genau so wie es auch viele schöne Tage gab. Und oft ist es nicht leicht, sich für einen Tag zu entscheiden, wenn man von Superlativen redet. Was war denn der wichtigste Tag in meinem Leben? Der lustigste? Der schönste? All das kann ich nicht beantworten, aber ich weiß so verdammt genau, welches mit Abstand der beschissenste Tag meines bisherigen Lebens war.

Das war der 15. Dezember vor zwei Jahren. Wie immer, wenn es um die Superlative im Leben von Männern geht, drehte es sich um eine Frau. Das ist wirklich immer so gewesen. In den dümmsten Fällen handelt es sich bei solchen Geschichten um die Vorgesetzte. In meinem Fall trifft das nicht zu. Dem Arbeitsleben konnte ich mich bisher soweit verweigern, dass Vorgesetzte zumindest nie eine gewichtige Rolle in meiner Lebensplanung spielten. Also war Ina nicht meine Vorgesetzte, und auch sonst kannte ich sie bis zwei Wochen vor dem 15. Dezember nicht. Zwar hatte ich sie davor schon einmal gesehen, aber wie das immer so ist, erinnern sich alle möglichen Leute an mich, nur ich mich nicht an sie. Das hat des öfteren zu kuriosen Kennenlern-Szenarien geführt. Ernesto und ich hatten an jenem ersten Dezemberwochenende, das erstaunlich mild war, einen sehr seltsamen Auftrag erhalten. Seine Familie plante die Überführung eines Schreibtisches in den Norden Deutschlands. Es handelte sich um ein Erbstück, dass zu einer Tante von Ernesto Mutter gebracht werden sollte. Ein eigens dafür gemieteter Vito sollte uns genügend Raum verschaffen, das edle Stück sicher in den Norden der Republik, genauer: nach Hamburg zu transportieren. Meine Führerschein-Prüfung hatte ich erst noch vor mir, und das war genau der Punkt, wo Ina ins Spiel kam. Es drehte sich um eine Fahrt über's Wochenende, ca. 650 Kilometer hin und das gleiche noch mal zurück. Da wollte Ernesto als Sicherheit einen Ersatzfahrer dabei haben, da so lange Strecken doch die Gefahr einer Übermüdung mit sich bringen. Am Morgen jenes Samstages wartete ich erst eine Stunde darauf, dass Ernesto mich endlich abholt. Das verzögerte sich, weil Ina ihren Zug verpasst hatte. Als ich dann erfuhr, dass unser Lieferwagen keine zweite Sitzreihe hat, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Ich kannte die Vordersitze des Vito nur zu gut, seit ich in einem vollbesetzten Fahrzeug dieser Klasse mit dem kompletten Geschichte-LK einen Ausflug nach Frankfurt gemacht habe. In mir spürte ich das taube Gefühl meiner Beine emporkriechen, das sich nach längerer Zeit in der Enge einstellte, und das mir schon so manchen Ausflug versaut hatte. So blieb uns engerer Kontakt während der Fahrt nicht erspart. Die Kilometer bis Hamburg verflogen nur so, und ich kann mich an kaum etwas während der Fahrt erinnern. Nur, dass Ina sehr seltsame Ansichten von der Welt hatte und ich mir des öfteren die Frage stellte, warum die Fahrt eigentlich nötig sei. Der Schreibtisch war weder besonders wertvoll, noch so sperrig, dass er den Transport in einem gemieteten Lieferwagen gerechtfertigt hätte. Dazu kam, dass die Verpflegung von Ernestos Mutter so umfangreich war, dass damit die Wirtschaftlichkeit des Transports stark in Frage gestellt werden konnte. Aber nun gut, so war es halt, und wir hatten gute Laune.

Der Empfang oben glich dem zurückkehrender Soldaten aus fernen Ländern. Wir wurden beinahe wie Helden verehrt, und gezwungen, gleich noch mal das Doppelte einer normalen Tagesration zu verschlingen. Dann folgte der gemütliche Teil. Mit dem Onkel von Ernestos Mutter verbrachte ich den Abend bis 1 Uhr im Wohnzimmer ihres Hauses und philosophierte über Gott und die Welt. Es war bisher das einzige Mal, dass sich ein Gastgeber, der mich noch nicht mal kannte, dafür entschuldigt hat, dass er leider nur noch in der Lage war, Dosenbier zu kaufen. Das freilich änderte nichts an der Tatsache, dass ich an diesem Abend nach 9 oder 10 Bier relativ besoffen ins Bett ging, um mich noch vier Stunden zu erholen, da wir morgens noch den Hamburger Fischmarkt besuchen wollten. Unsere Flucht vor dem geplanten Frühstück gelang nicht, und so wurde unser Ausflug um gute 2 Stunden verzögert. Inzwischen beschlich mich schon so langsam das Gefühl, dass es mir nicht so ganz recht war, dass Ina ausgerechnet in Ernestos Bett schlief. Dem maß ich aber noch keinerlei Bedeutung bei, da ich durchaus in der Lage bin, eine gewisse Eifersucht an den Tag zu legen, wenn es um Beziehungen geht. Meine Konfusion in Bezug auf mein Verhältnis zu Ina war nun so langsam auf ihrem Höhepunkt angelangt. Ihre Einstellung zur Welt, und der Meinung, dass sich in jedem Molekül des Planeten ein Fünkchen Liebe finden ließe, war mir schlicht und ergreifend zu naiv und zu überzogen. Ich hatte mir seit der Pubertät mühsam ein Weltbild aufgebaut, dass versuchte, Hass zu verklären, aber im Laufe der Zeit habe ich erkennen müssen, dass dieser Hass in uns allen vorhanden ist, und dass auch das seine Richtigkeit haben könnte. Und jetzt sitzt eine Frau neben mir, die 2 Jahre älter ist, und in meinen Augen ein so schöngefärbtes Weltbild hat, das in seiner klaren Abgrenzung der Verhältnisse und der Kräftigkeit der Farben ein Bild von Mondrian hätte sein können.

Andererseits mochte ich sie. Und erstaunlicherweise mochte ich sie gerade wegen ihrer Einstellung zum Leben, ihrer unverbrauchten Utopien wegen. Und die Liebe die sie in allem sah, war nicht nur das Verlangen, dass sie nach diesem Gefühl hatte, es war wie die Projektion der Liebe, die sie mit sich trug, auf alles andere in der Welt. Ich konnte sie ihrer Einstellung wegen nicht angreifen. Nicht nur, dass es mir wehgetan hätte, sie so zu verletzen, ich erkannte auch, dass die Wahrheit manchmal im Auge des Betrachters liegen kann. Um es kurz zu machen: Ich hatte mich verliebt. So wurde die störende Enge im Bus auf der Rückfahrt zu einem Segen. Ernesto wollte sich beweisen, dass er diese Fahrt alleine machen kann, und wir zwei hatten kein Interesse daran, ihn davon abzubringen. Aneinandergekuschelt ließen wir Deutschland passieren, die Ödnis der Autobahn, der Wechsel zwischen eintöniger Bepflanzung und hässlichen Lärmschutzwänden ging einfach an uns vorbei, das Glas durchsichtig und distanzierend zugleich. Nichts, was diese Idylle im Cockpit hätte zerreißen können. Während sie sich zum Schlafen in meinen Schoß sinken ließ, wärmte ich mein Herz und meine Finger durch das stetige Streicheln ihres Oberschenkels. War froh, ihren ruhigen und gleichmäßigen Atem zu spüren, und zu erahnen, dass ihr Puls gleich dem meinen auf ein Niveau gesunken war, der unter normalen Umständen zu Nahtod-Erlebnissen führt. Wie wichtig mir Ina aber wirklich ist, merkte ich erst, als Ernesto sie auf einem Rastplatz unsanft weckte, und dies mich aus meinen Träumen riss, mehr noch als sie aus ihren.

Der Rest der Fahrt verging viel zu schnell, und die Tatsache, dass jeder von uns am Ende mit 500 Mark bedacht wurde, nährte das Gefühl, so etwas könne nur einzigartig sein.

Der Abschied von Ina auf unbestimmte Zeit war natürlich schwer. Wie sollte es auch anders sein. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich sie vor 48 Stunden de facto noch nicht kannte, und ich den Kontakt nur über Ernesto halten könnte, da sie seine Studienkollegin war. Die kommende Woche verbrachte ich damit, meine Gefühle zu sortieren, und mir irgendwelche Hirngespinste zu kreieren, wie ich sie denn wohl das nächste Mal wiedersehen würde, und was ich ihr sagen würde. Ernestos Mutter sagte mal, dass Männer nie aus der Pubertät herauskommen würden. Diese Woche war ein Beweis dafür. Erst dann gelang es mir, wenigstens Ernesto zu erklären, was ich für Ina empfinde. Wie immer schaffte er es, die Situation schönzufärben, in dem er sagte, dass ganz gleich was draus wird, schon alleine das Gefühl des Verliebtseins es wert wäre, und dass er schon auch finden würde, dass sie einen Versuch wert wäre. Ich konnte ihm in keinster Art und Weise widersprechen, nahm dankbar ihre Telefonnummer entgegen, und erlag bereits am folgenden Abend der Versuchung, sie anzurufen, um sie zu fragen, ob wir denn nicht was gemeinsames unternehmen könnten. Natürlich hatte sie keine Zeit. Sie versprach, sich zu melden, und so war ich wieder ein Weilchen mehr oder weniger glücklich mit meiner Situation, und Ernesto war noch zudem ein wenig neidisch. Ich hatte mit ihm ausgemacht, er solle mir Neuigkeiten, die sich aus seinen Gesprächen mit ihr ergeben am Samstag mitteilen. Da schmissen ein paar Leute aus der Schule, Marc und co. ein Konzert, und das war somit der Tag, an dem man mir meine Laune nicht so leicht versauen könne. Es würde der 15. Dezember sein.

An jenem 15. Dezember erwachte ich irgendwann am späten Vormittag bei meinem Bruder, und irgendwie hatte ich die Geschichte mit Ernesto fast vergessen, glaubte nicht an schlechte Nachrichten, und beschloss, das Konzert heute abend so richtig zu genießen. Mal wieder Pogo mit höchstens 10 Leuten, eigentlich niemand, den man nicht kennt, und nebenbei eine neue CD mit den Jungs aufnehmen, deren Qualität die alte ein wenig übersteigen sollte. Na also! Gegen Mittag rief mich Ernesto an, mein Bruder war gerade außer Haus, um irgend einen Scheiß zu erledigen. Essen einkaufen vielleicht, oder Alk für meine Mutter, keine Ahnung. Ernesto und ich unterhielten uns über den Abend, das Konzert, und dass er leider nicht kommen könne, weil der Kunstverein bei ihm draußen ein Fest veranstaltet, bei dem er eingeplant war, wo ich aber wegen einiger Theatergeschichten im Sommer, bei denen ich ehrenamtlich geholfen hatte, gerne später noch vorbeikommen könnte. Ich verneinte lachend, weil das Konzert eh ewig gehen, und ich danach sicher mit den Jungs noch einen saufen gehen würde. Alles bestens, wir könnten uns ja die nächsten Tage mal sehen. „Ina hat im Übrigen einen neuen Freund“ erwähnte er am Telefon beinahe so beiläufig, als hoffe er, dass ich es überhören könne. Wie hätte ich das überhören können? Meine spontane Reaktion war ruhig, Ernesto sollte mir sogar später noch sagen, dass er es gar nicht fassen konnte, mit welcher Gemütsruhe ich solche Nachrichten hinnehmen könne. Ich verabschiedete mich noch freundlichst, legte das Telefon beiseite und schlug mit meiner rechten Faust gegen die Wand. Einmal. Zweimal. Immer wieder. Mich überkam ein Gefühl der Ohnmacht. Ich wollte mir Schmerzen zufügen, ohne mich zu verletzen, ich konnte es nicht. Die Hand nahm den Aufprall auf die Wand hin, sie schmerzte nicht, sie federte zurück, bereitete sich auf den nächsten Schlag vor, es geschah nichts. Mir war zum Heulen zumute. Ich konnte in diesem Moment nicht. Keine Träne war bereit, mir den klaren Blick auf den Stand der Dinge zu trüben, nichts passierte. Die Geräusche von der Straße verstummten langsam in meinen Ohren, ich hörte nichts außer dem dumpfen Aufprall meines Handrückens auf die kalte Wand. Nach einer Minute beschloss ich, mein Heil in der Flucht zu suchen. Ich wollte nicht hier sein, wenn mein Bruder in seinem Alltagstrott hereinstürmte, und mir erzählte, welche Getränke er wo gekauft hatte, wollte keine „Was ist denn mit dir los?“-Fragen meiner Mutter beantworten müssen. Ich wollte nur noch Ablenkung. Marc hatte mir schon angeboten, in der Kneipe beim Aufbauen zu helfen, sie wären schon ab mittags um 14 Uhr da, wenn ich wollte...

Ja, ich wollte. Ich wollte schwere Boxen aus dem Auto auf die Bühne wuchten, meinen Körper schinden, um meine Gedanken abzutöten. Aber ich nahm auch einen Briefblock mit, da ich wusste, dass ich jemandem schreiben musste. Irgendjemand musste einfach wissen, wie es mir geht. Ich würde an Bine schreiben, die hat mich bisher noch nie hängen lassen, wenn es um solche Sachen ging. Ihr konnte ich immer alles erzählen. Aber zuerst würden die Jungs meine Hilfe brauchen können.

Als ich an der Kneipe, in der sie spielen wollten ankam, war niemand da, es war geschlossen, und es war bitterkalt. Das fiel mir erst hier beim Warten vor der geschlossenen Türe auf. -10°C. Die Temperatur war in den letzten beiden Wochen rapide gesunken, bei mir erst im Laufe der letzten halben Stunde. Dafür umso rapider. Nach etwa 20 Minuten war noch immer niemand da, und so beschloss ich, mich zu jenem Spielplatz zu bewegen, der es in dem Stadtteil, in dem ich groß geworden bin, geschafft hat, von mir nicht entdeckt zu werden. Vielleicht ist er erst spät gebaut worden. Mein Vater hatte mir vor ein paar wenigen Jahren von seiner Existenz berichtet, da es dort Tischtennisplatten gab, und wir zu der Zeit recht gerne spielten. Der Spielplatz lag in einem der zahllosen Hinterhöfe des Stadtteils, umgeben von fünf- bis sechsstöckigen Gebäuden aus dunkelroten Backsteinen. An diesem kalten Wintermorgen wirkte die warme Farbe der Häuser kühler auf mich als die zahllosen Betonklötze der Innenstadt. Ich setzte mich auf eine Bank, die so kalt war, dass mein Hintern drauf und dran war, darauf festzufrieren. Ich hatte nur eine Sommerjacke dabei, aber ich trotzte der Kälte. Schmerzen! Ohne Handschuhe glitt der Kuli, ein Werbegeschenk einer großen Dienstleistungsgesellschaft, über das Papier, füllte die kleinen Karos des Blattes mit Buchstaben, Wörtern, Sinn und Wärme. Meine gesamte Körperwärme wurde Teil dieses Briefes, den ich nie abschicken sollte. Nach rund einer Dreiviertelstunde ging ich noch mal zur Kneipe, und suchte die Jungs. Wie ausgestorben. Irgendwann beschloss ich, dass ich nun schon aus gesundheitlichen Gründen wieder die warme Wohnung aufsuchen sollte.

Mein Bruder war inzwischen wieder da und vertrieb sich die Zeit mit sinnlosen Ballerspielen, deren Gewalttätigkeit nicht auch nur einen Ansatz meiner Aggressionen abzubauen in der Lage gewesen wäre. Ich war immerhin in der Lage so viel Schwachsinn wie immer von mir zu geben, und niemand wusste von meinen Gefühlen. Ich weiß nicht, ob ich da bereit gewesen wäre, sie jemandem zu offenbaren außer Bine. Nachdem ich meine Hände wieder spüren konnte, wusste ich, dass ich weiterschreiben musste. Zudem wartete vielleicht die Crew meiner Rettung im Kneiple, ich musste wieder raus.

So war das eben. Wieder war niemand aufzufinden, so langsam drehte ich hohl. Ich schrieb wieder gut eine Stunde, der Nachmittag schritt voran, und die Zeit war doch wie eingefroren. Wieder zu Hause eingekehrt, waren bereits Moritz und Ernst anwesend, die vorhatten, das Konzert mit mir und meinem Bruder zu besuchen. Der beiläufige Kommentar seitens Ernst, ob ich irgendwie schlechte Laune hätte, wäre beinahe mit einer Straftat vergolten worden. Auf dem Weg zur Kneipe, voller Unbehagen, ob das Konzert stattfinden würde, trafen wir dann Isa. Leicht angeheitert berichtet sie uns freudestrahlend, dass das Konzi im Clubraum und nicht im Kneiple stattfinden würde. All meine Versuche, meinen Geist mittels körperlicher Ertüchtigung zum Schweigen zu bringen, hätten funktionieren können, wenn Marc mir die richtige Auskunft gegeben hätte. Das ist ja nicht zum Aushalten! Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die Fahrt Richtung Clubraum schwieg Ernst wohlweislich über meine Laune, und als wir endlich da waren, erhellte sie sich ob der Hoffnung, ihn beim Pogen so richtig in Grund und Boden zu hämmern. Dass sich das Konzert ein wenig verschob, weil die Bandmitglieder noch den Weihnachtsmarkt nutzten, um sich ein wenig Mut anzutrinken, war eigentlich nicht weiter beunruhigend, und so versuchte ich meinen Frust zu ertränken. Ich habe es nie verstanden, wenn Leute ihren Frust und ihren Kummer mit Alkohol zu bekämpfen versuchen, eigentlich kann ich es immer noch nicht, aber in solchen Fällen kann er Leuten wie mir helfen, ein bisschen runter zu kommen, oder einfach die Verarbeitung der Geschehnisse fördern, indem er dafür sorgt, dass ich mich eher ausheulen kann, als ich es ohne tun würde.

9 Beck's, dann war der Vorrat alle. Während meiner alokoholgestützten Talfahrt an diesem Abend traf die Band ein, und das Konzert begann. Klar war mir nach Pogo, aber die Hemmungen zu Beginn sind stärker als der Frust, außerdem will das letzte Bier erst mal leergetrunken sein...

„...please stop praying now, 'cause it's useless, and it doesn't make any sense…” * eure Worte zum Troste! Klar rockten die Jungs, klar waren wir geil auf Party, doch wir warteten drei Lieder. Wie der Zufall es aber will, waren das drei Lieder zu lange. Als Ernst, mein Bruder und ich beschlossen, uns auf die Tanzfläche zu begeben, und die Sau aus uns rauszulassen, spielte mir der Lauf der Dinge erneut einen bitterbösen Streich. Rechts vor der Bühne klappte ein Mädchen zusammen, und war mehr oder weniger bewusstlos. Diese Szene, durch meinen stetig steigenden Alkoholpegel surreal anmutend, gab dem Abend die letzte entscheidende Wendung.

Das Konzert wurde abgebrochen, die Stimmung sank von euphorisch auf gedrückt, und verfiel dann fast ein wenig ins panische. Wie ein Schatten meiner selbst wandelte ich durch die Räume, den Hof, während andere erste Hilfe leisteten, Isa trösteten, den Notarzt verständigten. Auf der Terrasse fand ich einen schluchzenden Marc vor, der völlig aufgelöst den Lauf der Welt beschimpfte, und sich trotzig allen Beschönerungsversuchen widersetzte. Dass ausgerechnet ich versuchte, ihn aufzumuntern, indem ich sagte, dass alles wieder gut würde, grenzt nicht nur an Ironie, sondern ist Zynismus der übelsten Sorte.

Das Leben ist hart, aber ungerecht. Dieser Satz beschreibt hervorragend diesen Abend. Bald kümmerten sich bessere Freunde um Marc, und uns blieb die Ratlosigkeit, die Enttäuschung, und mir mein Frust. Nach dem Abtransport dieses Mädels war sehr bald klar, dass das Konzert verschoben werden würde auf unbestimmt, und die Heimreise das einzig Sinnvolle war. Meine Gefühle fuhren auf der Fahrt Achterbahn. Da war der Schmerz, der Auslöser all meines Stresses war, die Wut über den versauten Tag, die Besorgnis um ein Mädchen, das ich nicht kannte, das Mitleid mit Marc, und nicht zuletzt die Einjahres-Familienpackung Selbstmitleid, die ausnahmsweise umsonst war.

Auf dem Weg zur Feier mit Ernesto, die mir als einziger Ausweg in Sicht schien, verunstaltete ich den Brief an Bine mit sinnlosen Kritzeleien, die hauptsächlich Tod und Gewalt zum Thema hatten. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, den Tag noch mit irgendwelchem Optimismus anzugehen. Die U-Bahn glitt aus der Stadt, während mein tragbarer CD-Player der Welt bewies, mit welch brachialer Wucht Gitarrenriffs die Nacht zerreißen können, wie hämmernde Beats Tage zerteilen in zigtausend einzelne Takte, wie martialisch Gesang sein konnte, wenn es Menschen schlecht geht. Und wehe, es hätte mich jemand darauf angesprochen, ob es nötig sei, das Teil so laut aufzudrehen...

Nicht mal Ernesto gegenüber konnte ich so offen sein. Ich brachte es nicht übers Herz, meine Gefühle so offen zu zeigen. Männer weinen nicht. Pah, dummes Geschwätz. Natürlich weinen wir. Würde mich nicht mal wundern, wenn wir es öfter täten als Frauen. In der Theorie verabscheute ich diese sexistisch vorbelasteten Klischees von starken Männern und schwachen Frauen, aber selbst einem Freund in die Arme zu fallen und mich auszuheulen fiel mir so schwer. An diesem Abend wollte ich nur noch ins Bett – oder irgend etwas vollkommen nutzloses tun. Mir viel nix nutzloseres ein, als mich einfach weiter zu besaufen. Und Hunger hatte ich. Einfach Hunger. Hatte ich heute schon was gegessen? Ich glaube nicht. Und dann neun Bier? Ich bin doch verrückt. Das zehnte Bier war der Garant für die morgendlichen Kopfschmerzen. Es gab nur Hofbräu. An so einem Tag auch noch schlechtes Bier zu trinken, war entweder die logische Konsequenz aus den vorhergegangenen Ereignissen, die Perfektionierung der Selbstkasteiung, oder aber einfach nur ein Beweis dafür, dass dieser Tag nicht gut enden kann. Bei mir traf beides zu. Den Hunger stillte ich mit einer Pizza für fünf Mark in einer durchschnittlichen Döner-Bude, für die wir auch noch einen Umweg in Kauf nahmen. Während ich den Weg nutzte, meiner Hand, die Schläge so verdammt teilnahmslos hinnimmt, weitere Schmerzen durch diverse Hauswände und Verkehrsschilder zuzufügen, stellte sich nun auch körperlich das Gefühl ein, dass mich seelisch den ganzen Nachmittag und Abend durch begleitet hatte. Mir war zum Kotzen. Dem verlieh ich Nachdruck, als ich die soeben verschlungene Pizza dem städtischen Abwasser zuführte, und mich nach kurzer Abendhygiene dem Bette zuwand, und wie in so vielen Nächten einfach nur beschissen schlief. Und Ina? Ich hab sie bisher nicht wiedergesehen...


Für'n Zwanni mach ich's auch oben ohne...

(Alex)